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Der provokative Ansatz in der Beratung

Illustration: Christian Dorn auf pixabay.com   

Na, Sie haben den Artikel ja doch geöffnet. Dann gab es wohl Widerstand gegen die Behauptungen im Teaser.

Sehr gut. Denn die Aktivierung des Widerstands ist das Ziel des provokativen Ansatzes, der so ganz anders daherkommt, als die klassischen Methoden aus dem Handwerkskoffer der Beraterin. 


Bereits Anfang der Sechzigerjahre entdeckte der Amerikaner Frank Farrelly, was Provokation bei psychischen Krankheiten bewirken kann. Er arbeitete in einem psychiatrischen Krankenhaus und konnte viele seiner Patient:innen aus der Klinik hinausprovozieren. Aus seinen Erfahrungen entwickelte er die Provokative Therapie, die wiederum selbst provozierte: Seine Kolleg:innen hielten ihn für unverschämt oder meinten, dass seine Methoden keine ernsthafte Therapieform seien. Doch der Erfolg gab ihm recht. In Deutschland haben Noni Höfner und ihre Tochter Charlotte Cordes seit den Achtzigerjahren die provokative Therapie zum provokativen Ansatz weiterentwickelt, der sich ebenso auf Beratung und Coaching anwenden lässt. 


Nun verbinden wir den Begriff Provokation meist mit Aggression. Wer provoziert, treibt sein Gegenüber nicht selten zur Weißglut. Doch es ist anders: Im provokativen Ansatz wird viel gelacht. Das gelingt durch liebevolles Karikieren der Wachstumsbremsen des Klienten. Die Beraterin stimmt zum Beispiel den selbstschädigenden Erklärungen des Klienten zu und gibt ihm mehr Recht, als ihm lieb ist. Sie legt sogar noch eins drauf und macht Vorschläge in die gleiche Richtung, und zwar solche, die völlig absurd und überzeichnet sind. Oder sie hat selbst Erklärungen für das Verhalten des Klienten parat: sein Charakter, seine ungünstige Vergangenheit, seine schlechte genetische Ausstattung, sein Alter oder ja - auch sein Sternzeichen! Auch Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen kommen da gut: „So sind Pfarrer eben!“ Je hemmungsloser die Beraterin übertreibt und je pauschaler sie wird, desto absurder und lustiger wird es. Und desto stärker wird der Impuls des Klienten, zu widersprechen. Er sortiert sich innerlich und relativiert die eigenen Absurditäten. Das Lachen entspannt und schafft so die Grundlage für die Erkenntnis, wie er sich selbst im Wege steht. 


Haltung und Äußerungen des Beraters sind dabei inkongruent. Unabdingbar ist, dass der Berater eine äußerst wertschätzende Haltung der Klientin gegenüber hat und dass er ihr zutraut, eigene Lösungen für ihre Probleme zu finden. Er glaubt bedingungslos an ihre Fähigkeiten. Diese wertschätzende Haltung vermittelt er über seine Körpersprache, er tut es nonverbal. Über lächelnde Augen zum Beispiel. Was er sagt, passt allerdings so gar nicht dazu. Das ist unhöflich, unverschämt und unprofessionell. Diese völlige Inkongruenz ist mitunter Grund für die gelöste Stimmung. Der Körper des Beraters spricht völlig frei von Aggression und schafft eine sichere Atmosphäre. 


Wie genau wirkt sie denn nun, die Provokation in der Beratung? Zum einen: Sie aktiviert den Widerstand. Aber ist Widerstand nicht eher hinderlich? Nicht, wenn er sich gegen das eigene hinderliche Verhalten und Denkmuster richtet. Zum anderen: Das Lachen kann die in negativen Gefühlen gebundene Energie befreien. Angst und Lachen sind inkompatibel. 


Ganz frei von Risiken ist der provokative Ansatz indes nicht. So könnte er etwa missbraucht werden, um subtile Aggressionen gegenüber dem Klienten loszuwerden. Es könnte zu einem Lachen seitens des Beraters über die Klientin kommen, nicht mit der Klientin. Oder der Berater beginnt, die Klientin als Ganzes zu karikieren, nicht nur ihre Stolpersteine und Wachstumsbremsen. Der Grat zwischen wertschätzender Haltung und unverschämten Äußerungen ist ein schmaler. Provokation ist ein mächtiges beraterisches Handwerkszeug und der Umgang damit sollte gut gelernt sein. 


Im Netz finden Sie einige Videos von Frank Farrelly, die es anzuschauen lohnt. Und Weiteres von Noni Höfner und Charlotte Cordes zum provokativen Ansatz, das mehr Einblick gibt, als dieser kurze Artikel es kann. 


Und, alles verstanden, trotz Ihres Sternzeichens? Das dachte ich mir doch. 


Christian Leibner


Christian Leibner
Projektstudienleitung ekhn2030





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